Markus und Fabian teilen sich eine Wohnung in Bozen. Und sie teilen die Leidenschaften, leidenschaftlich zu diskutieren und pointiert zu schreiben. In ihrer Küche wird über kompletten Nonsens genauso gerne diskutiert wie über die aktuelle Weltpolitik (nur gekocht wird dort nicht so oft). Ähnlich soll es in diesem Blog passieren.
Das Konzept: beide schreiben einmal pro Monat mit einer vorgegebenen Zeichenzahl ihre Meinung zu einem vorgegebenen Thema. Eine Woche nach Veröffentlichung wird abgerechnet: wer hat mit seinem Text mehr Views und Likes erreicht?
Der Verlierer muss den Müll runterbringen. Der Gewinner darf das Thema für den nächsten Monat bestimmen. Vorschläge dürfen natürlich auch von euch Lesern kommen.
Gute Unterhaltung beim „Battle of Blogs“!

Mittwoch, 22. März 2017

Tatort – Lagerfeuer der Nation und Spiegel der Gesellschaft (Markus)



Tatort: Sechs Buchstaben, 90 Minuten. 47 Jahre Fernsehgeschichte, 47 Jahre deutsche Geschichte. Über 1.000 Sonntage mit Mord. Als 1970 der erste Tatort lief, war Willy Brandt Bundeskanzler, Jochen Rindt war Formel 1-Weltmeister und 0,5 Liter Bier haben 70 Pfennige gekostet. Das muss lange her sein.

Die deutsche Gesellschaft hat sich stark gewandelt in den letzten Jahrzehnten, und der Tatort als ihr Spiegel hat sich mitgewandelt. Nur so konnte er überleben. Mehr als nur das: Jetzt, wo es kein „Wetten, dass“ mehr gibt, ist der Tatort – neben der Nationalmannschaft – das letzte verbliebene Lagerfeuer der Nation.

Jeder Generation ihr Medium: Den Großeltern das Radio, den Eltern das Fernsehen, uns das Internet – aber alle schauten und schauen wir Tatort. Am Sonntag um 20:15 Uhr. Wie wenn es kein Time-Shift und kein Mediathek-Streaming gäbe. Die Älteren haben sich vielleicht etwas mehr auf die Mörderjagd konzentriert, während wir Jüngeren auch die lustigsten Twitter-Kommentare auf dem Second Screen im Blick haben; unsere Eltern schauen den Tatort in der Regel zu zweit, wir schauen ihn gemeinsam mit Freunden, durchaus auch beim „Public Viewing“ in der Kneipe – selbst die Art, Tatort zu schauen, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und der unterschiedlichen Generationen. Aber am Sonntagabend mit einem Glas Wein in der Hand auf der Couch sitzen und Tatort schauen, das ist und bleibt Deutschland.

Mein Vater war von Anfang an dabei, er hat Timmel 1970 im Taxi nach Leipzig fahren sehen. Ich bin irgendwann in meiner Vor-Abi-Zeit eingestiegen, als mit Bienzle und Palu noch die alte Bundesrepublik das Fernsehprogramm dominierte, mit Ritter/Stark und Dellwo/Sänger aber auch schon das 21. Jahrhundert auf dem Bildschirm Einzug hielt.

Wenn man Sonntag für Sonntag Tatort schaut, merkt man gar nicht, wie sehr die Kriminalfälle den Wandel der Gesellschaft spiegeln. Erst im Rückblick wird klar, wie wir uns verändert haben: Wenn man zum Beispiel einen Schimanski von 1988 schaut und sich wundert, warum er in die Telefonzelle rennt, statt einfach das Handy aus der Tasche zu ziehen.

Wenn man wissen will, wie Deutschland im Jahr X aussah oder aussieht, sollte man einen Tatort aus dem Jahr X schauen. Wunderbare, unterhaltsame Zeitdokumente. Wie schön gemütlich Deutschland und seine Verbrecher früher waren! Heute gibt es hingegen Handys, Internet, Überwachung, Drohnen und künstliche Intelligenz – kein relevantes Thema, das nicht schon mal im Tatort aufgegriffen wurde. Und trotzdem überrascht er immer wieder mit neuen Inhalten. Ein bisschen Sozialkritik darf schon sein. Humor auch. Und Spannung sowieso. Wenn alles zusammenkommt, dann ist es ein guter Tatort. Wenn stattdessen nur wilde Action zu sehen ist, dann ist es ein Til-Schweiger-Tatort.

Das who is who der deutschen Schauspielerei war schon einmal Tatort-Kommissar: Gustl Bayrhammer, Manfred Krug, Götz George, Hannelore Elsner, Jan Josef Liefers, Joachim Król, Nora Tschirner usw. Und weil es anscheinend nicht so viele deutsche Schauspieler gibt, hat Martin Brambach in elf (!) verschiedenen Tatort-Fällen als Nebendarsteller mitgewirkt, bevor er 2016 in Dresden zum Kommissariatsleiter wurde.

Erst 1981 gab es (mit Hanne Wiegand) die erste Frau als Ermittlerin – die später von ihren Kollegen aus dem Job gemobbt wurde. Heute wundert sich niemand mehr über weibliche Ermittler – in Dresden gibt es sogar das erste Frauen-Duo. Dortmund (wo auch sonst?) hat uns mit Nora Dalay alias Aylin Tezel die erste Kommissarin mit türkischem Migrationshintergrund beschert, in Köln (wo auch sonst?) gibt es endlich den ersten bekennenden Homosexuellen. Und von den Einzelkämpfer-Kommissaren haben nur Lindholm und Murot überlebt – im 21. Jahrhundert arbeitet und ermittelt man eben im Team. Der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Das Private und insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielen im Tatort heute eine viel größere Rolle. Früher ist Bienzle von der Arbeit nach Hause gekommen, hat den Hut und somit die Arbeit an die Garderobe gehängt, von Hannelore gab es Begrüßungskuss und Abendessen und die Welt war wieder in Ordnung. Heute ist Anna Janneke mit ihrer rund-um-die-Uhr-Doppelrolle als Patchwork-Mama und Kommissarin komplett überfordert, und es ist irgendwie überhaupt nichts mehr in Ordnung – der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Der Tatort zeigt nicht nur den Wandel unserer Gesellschaft, er zeigt auch die Vielfalt der deutschen Gesellschaft. Das raue Duisburg von Schimanski und Thanner, das multikulturelle Köln von Ballauf und Schenk, das kühle Kiel von Borowski und Brandt, das verschrobene Franken von Voss und Ringelhahn – das alles ist Deutschland. Der Dialekt der saarländischen Sekretärin, die Fußballbegeisterung von Kossik, der Humor von Thiel und Boerne – das alles ist Deutschland.

Natürlich unterscheidet sich die Qualität von Woche zu Woche. Wenn der Tatort aus Wiesbaden oder Dortmund kommt, dann können auch HBO-Serien nicht mithalten. Wenn Ludwigshafen und Konstanz laufen, kann man sich wenigstens 90 Minuten lang über den schlechten Tatort auslassen. Aber auch wenn der Tatort nicht immer überzeugen kann: Routine tut gut in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt. 90 Minuten ohne E-Mail-Terror und ohne islamistischen Terror. Einfach nur mit einem Mord und einem Glas Wein. Am Anfang spielt Udo Lindenberg Schlagzeug, und am Ende wird der Mörder gefunden und die Welt ist gerettet. Seit 47 Jahren.

Tatort: 6 profane Gründe für den Mordserfolg (Fabian)

Der Erfolg des Tatort ist ein nahezu unbeschreibliches Phänomen. Nahezu! Dabei gibt es unzählige Erklärungsversuche. Wärend die einen behaupten der Erfolg beruhe auf einer ziemlich genauen Abbildung der deutschen Gesellschaft deckt dieser Blogartikel die simplen Motive auf die den Erfolg der Krimireihe ausmachen.  
Tatort: 6 profane Gründe für den Mordserfolg

Erfolg durch Gesellschaftskritik? Wohl eher nicht.

Wohl um den nahezu unheimlichen Erfolg zu erklären hält sich hartnäckig die These, der Tatort sei deshalb so beliebt, weil er die Komplexität der Gesellschaft abbildet, weil er sozusagen deren Spiegel ist. Was für eine elitäre Theorie. Zunächst gibt es ja nicht „den Tatort“; jeder Rundfunk hat andere Drehbuchschreiber, Drehorte und Schauspieler.

Zudem ist ein Krimi per se nie ein Abbild der Gesellschaft. Knapp 300 Morde gibt es jährlich in Deutschland. Die Tatort-Reihe kommt im Jahr 2016 auf 162 Morde. Deutschland, Land der Mörder und Zuhälter, möchte man meinen, wenn man die Gesellschaft anhand des Tatorts rekonstruieren möchte. Dazu kommt: währen die Anzahl der Morde in der „echten“ Gesellschaft stetig abnimmt (-40% in den letzten 15 Jahren) nimmt sie im Tatort immer weiter zu (2016 war das „blutigste“ Jahr überhaupt).

Regisseure, Drehbuchschreiben und Rundfunkanstalten müssen Erfolge produzieren. Für Millionen von Zusehern. Und Millionen bekommt man nicht durch para-akademische Milieukritik vor den Bildschirm.

6 profane Gründen die uns an den Bildschirm fesseln

Der Erfolg des Tatorts lässt sich mit 6 eher simplen Gründen erklären. Tatort, das ist eine Krimireihe der Gegensätze. Sie ist sowohl abwechslungsreich als auch kontinuierlich, gleichermaßen vorhersehbar wie überraschend und ebenso altbacken wie modern.

1.      Abwechslungsreich: „Den Tatort“ gibt es nicht. Jeder Drehort hat seine abgegrenzte, in sich abgeschlossene Handlung. Und jede ist unterschiedlich. Altbacken-traditionell in Köln oder München, skurril in Münster, unterhaltsam in Dortmund, sozialkritisch in Berlin und so weiter. Es ist Teil der Faszination, dass es jede Woche um einen anderen Aspekt geht. 20 Shades of Krimi könnte man sagen – nicht nur dass jeder Geschmack dadurch abgedeckt wird: jeder hat seinen Favoriten. Das sorgt für Gesprächsstoff am Montag im Büro. 

2.      Kontinuativ: Nein, das ist kein Gegensatz zu Punkt 1. Die Krimireihe schafft es vielmehr den Bogen zwischen den 2 Punkten zu schlagen. Mal ehrlich: wie viele Fernsehfilme mit fortlaufenden Handlungen gibt es im deutschen Fernsehen? Ok, auch der Tatort hat keine Cliffhanger a là Breaking Bad, aber meist einen Handlungsstrang der über 90 Minuten hinausgeht. Im Unterschied zu so gut wie allen anderen Krimis im TV. Dies sorgt für Spannung, dafür dass sich Insider noch tiefer drin fühlen und dafür dass sich echte Charaktere entwickeln können.

3.      Vorhersehbar: Am Anfang wird gestorben, mittendrin wird aufgedeckt, am Ende ist alles gut. Wenn es eine Beschreibung für „den Tatort“ gibt, dann diese. Was trifft die deutsche Seele besser als diese Abfolge. Man geht den Dingen auf den Grund, findet raus dass etwas ziemlich falsch läuft und bringt es in Ordnung. Wenn es sehr kompliziert ist, spricht Anne Will in gediegener Runde noch eine Stunde darüber. Wenn dann wirklich alles geklärt ist geht’s zum Zähneputzen und dann ab ins Bett. Der Mensch ist eben doch ein Stück weit ein Gewohnheitstier. 

4.      Überraschend: Ein Krimi hat viele Facetten, einige von ihnen kennen wir zur Genüge, andere hauen uns geradezu aus den Socken. Gerade wenn es keine klassische Gangsterjagd oder keinen „Aufklärungskrimi“ gibt, ist der Überraschungseffekt groß. Elemente wie einen Erzähler der durch die Handlung führt, ein Stück-im-Stück oder ähnliches sorgen für die ganz besondere Würze.

5.      Alt: Keine 10 Seiten ist die Bibel alt, bis der erste Mord passiert. Seit Kain und Abels „Tatort“ hat sich nicht viel verändert. Niedrige Motive erklären, in ihrer Einfachheit, einen großen Teil des menschlichen Handelns. Und sie sind so schön Zeitlos und für jeden Verständlich. Meine Oma kann sich genauso gut eine eifersüchtige Ehefrau vorstellen wie es ein Handwerker im Mittelalter konnte oder ein IT Ingenieur der Zukunft können wird. Darauf baut der Sonntagskrimi, unverändert seit mehreren Jahrzehnten.

6.      Neu: Es gibt wenige Fernsehereignisse, die es in den Twittertrends ganz nach oben schaffen. Neben Sportübertragungen und dem Dschungelcamp wohl nur Tatort. Da werden laufend Handlungen kommentiert, schlechte Ausgaben verrissen und es wird laufend kommentiert. Man hat den Eindruck, Tatort wird in Zeiten von Onlinemediatheken nur deshalb pünktlich um 20.15 angesehen, damit man ihn auf dem Second Screen auf Twitter verfolgen kann.